Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 167

Juli 2012

Teil 2 des Beitrags von Gabriel Berger.

Teil 1 mit den Kapiteln 1-6 sowie das zum Text insgesamt dazugehörige Editorial finden Sie hier:
Online-Extra Nr. 166

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Online-Extra Nr. 167


War die DDR antisemitisch?

Teil 2


GABRIEL BERGER


7. War die antiisraelische Haltung der DDR antisemitisch?

Ein unrühmliches Blatt der DDR-Geschichte ist natürlich die Haltung zu Israel. Bedenkt man aber, dass die aggressive antiisraelische und undifferenziert araberfreundliche Rhetorik, derer sich die SED und die Medien in der DDR bedienten, in Moskau produziert wurde und sowjetischen Großmachtambitionen diente, wird sie zwar nicht entschuldbar, aber zumindest plausibel. Die SED und die Staatsmacht der DDR waren jedoch streng darauf bedacht, zwischen Israel und Juden zu unterscheiden, weshalb die antiisraelische Haltung der DDR und besonders die Militärhilfe an die arabischen Nachbarstaaten Israels wohl als unverantwortlich, in ihrer Intention aber kaum als judenfeindlich zu deuten ist, ebenso wenig wie die antiisraelische Haltung meines jüdischen und kommunistisch gesinnten Vaters. Man muss auch bedenken, dass die antizionistische Haltung schon vor der Nazizeit unter kommunistisch orientierten Juden Gang und Gebe gewesen ist. Denn die zionistische Konzeption eines jüdischen Staates in Palästina wurde von den ihrem Selbstverständnis nach internationalistisch gesinnten Marxisten als ein nationalistisches Konstrukt verworfen und scharf bekämpft. Diese radikal antizionistische Haltung war aber mit strikter Ablehnung der Judenfeindschaft und der Diskriminierung von Juden verbunden, weswegen sie nicht als antisemitisch zu bewerten ist, ebenso wenig, wie die grundsätzliche, zuweilen militante Ablehnung jeder Religion durch die Kommunisten, einschließlich der jüdischen. Als antisemitisch kann aber, nach der heute geltenden Definition21  und an einem moralischen Mindeststandard gemessen, auch eine unverhältnismäßig negative Bewertung Israels bezeichnet werden, verbunden mit Forderungen an Israel, die an keinen anderen Staat der Welt erhoben werden, so etwa der, das Leben der eigenen Bürger nicht vor Terroranschlägen seitens palästinensischer Extremisten schützen zu dürfen. Doch selbst diese zweifellos antisemitische Form des „Antizionismus“ darf nicht mit Judenfeindschaft verwechseln werden, zumal sie von zahlreichen jüdischen „Friedensaktivisten“ in und außerhalb Israels vertreten wird. Sie ist antisemitisch, weil sie in letzter, oft nicht bedachter Konsequenz die Beseitigung des Staates Israel und den Massenmord an seiner jüdischen Bevölkerung durch die Feinde Israels in Kauf nimmt. In diesem Sinne ist die Berichterstattung über Israel in den DDR-Medien als antisemitisch, aber nicht judenfeindlich, einzustufen, wobei allerdings die Übergänge fließend sind.

Ebenso kritisch, das sei am Rande bemerkt,  muss jedoch auch die gegenwärtige, oft feindselige Berichterstattung der bundesdeutschen Medien über Israel betrachtet werden, wobei aber die bundesdeutschen  Propagandisten im Gegensatz zu ihren DDR-Kollegen keinem Druck seitens einer ideologischen Zentrale oder einer Großmacht ausgesetzt sind, folglich ganz freiwillig einseitig oder falsch berichten.


8. Die Haltung der Staatsführung zu Israel trieb Juden in der DDR in Gewissenskonflikte

Die antiisraelische Propaganda war in der DDR mit einer den Bürgern auferlegten Pflicht verbunden, sich zu ihr öffentlich zu bekennen, was in besonderen Meetings in Betrieben, Institutionen und Bildungseinrichtungen demonstrativ geschah. Wer sich einem solchen öffentlichen Bekenntnis verweigerte konnte mit disziplinarischen Schritten, besonders innerhalb der SED, und mit negativen Folgen für seine berufliche Laufbahn rechnen. Diese Atmosphäre der Erpressung trieb viele Bürger der DDR mit jüdischen Wurzeln, die sonst dem Staat und der kommunistischen Ideologie gegenüber loyal eingestellt waren, in tiefe Gewissenskonflikte, die sich bei manchen von ihnen in öffentlichen Bekundungen der Solidarität mit Israel entluden. Die Reaktionen der Behörden auf solche individuellen Demonstrationen waren unterschiedlich. Sie reichten vom Ignorieren, was zum Beispiel in meinem Fall 1967 und danach geschah, bis hin zu Repressionen, die von den Betroffenen als antisemitisch wahrgenommen wurden, so zum Beispiel im Fall von Helmut Eschwege. Mein jüdischer Freund Peter Schreier aus Meißen wurde 1967, nach einer Auseinandersetzung mit einem ägyptischen Kommilitonen, den er wegen seiner aggressiv antijüdischen Äußerungen als „Nazi“ beschimpfte und bei der Leitung der Leipziger Universität anzeigte, selbst von der Universität verwiesen. Höhepunkte erreichte die öffentliche Verteufelung Israels anlässlich der arabisch-israelischen Kriege, so 195622 , 196723 , 197324  und 198225 . Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die DDR-Medien in der antiisraelischen Propaganda streng den sowjetischen Vorgaben und Mustern folgten. Als Indiz hierfür kann die sukzessive Öffnung der DDR für Kontakte mit jüdischen Gemeinden der Bundesrepublik, jüdischen Organisationen in den USA und schließlich auch dem Staat Israel seit 1985 dienen. Der radikale Wechsel der Politik gegenüber Juden, besonders aber gegenüber Israel, deckt sich zeitlich weitgehend mit der von Honecker ungeliebten Perestroika von Gorbatschow. Die bis dahin üblichen Befehle aus Moskau blieben plötzlich aus, wodurch die Satelliten der Sowjetunion eine seit ihrem Entstehen nach dem 2. Weltkrieg nicht gekannte politische Handlungsfreiheit erhielten. Die Honecker-Führung nutzte diese nicht zu einer Demokratisierung des politischen Systems, wohl aber zu einer Entkrampfung des Verhältnisses zu Juden in der DDR und in der westlichen Welt, schließlich auch zu einer zaghaften Revision der bisherigen aggressiven Politik gegenüber Israel.


9. Es gab in beiden deutschen Staaten einen traditionellen Antisemitismus

Dass Judenfeindschaft im Sinne einer Diskriminierung von jüdischen Mitbürgern in der DDR, zumindest nach dem Tod Stalins im Jahre 1953, weder Staatsdoktrin, noch Teil der Ideologie oder des politischen Systems gewesen ist und im Gegenteil schwer geahndet wurde, schließt natürlich keineswegs aus, dass es bei einer ganzen Reihe von Personen gegen jüdische Menschen gerichtete antisemitische Vorurteile gegeben hat, die aber aus der deutschen, insbesondere nazistischen, Vergangenheit stammten. Nicht zuletzt deshalb, aber auch wegen ihrer marxistischen Einstellungen, scheuten sich in der DDR die meisten Juden, sich als solche zu outen. Das hatte auch gute Gründe, denn selbst kommunistisch orientierte Gegner des Antisemitismus waren von antisemitischen Klischees nicht frei. Das zeigte sich Ende der achtziger Jahre, kurz vor der Wende, ausgerechnet in Bemühungen Erich Honeckers, jüdische Kreise in den USA DDR-freundlich zu stimmen, um dadurch, wie er meinte, eine finanzielle Unterstützung der DDR durch die USA zu erwirken .26 Damit beschritt er aber einen Weg, den die Bundesrepublik bereits dreißig Jahre zuvor gegangen war. Man sollte nämlich nicht vergessen, dass die Zuwendungen der Bundsrepublik an Israel in den 50-ger und 60-ger Jahren weniger von moralischen Überlegungen und schlechtem Gewissen diktiert wurden, als von dem Glauben, so die als judenfreundlich geltenden Amerikaner und ihre Verbündeten von der „Salonfähigkeit“ des westdeutschen Staates überzeugen zu müssen .27 Die Anerkennung der Bundesrepublik Deutschland als Partner des Westens führte folglich unter anderem über die Kooperation mit Israel. In diesem Zusammenhang nicht unwesentlich sind die von der DDR damals an die Sowjetunion gezahlten enormen Kriegsreparationen. Der Bundesrepublik wurden dagegen sofort nach ihrer Entstehung 1949 von den drei Westmächten die Reparationszahlungen erlassen. Dabei ist die erheblich höhere Wirtschaftskraft der alten Bundesrepublik als der DDR zu bedenken, die kaum in der Lage gewesen wäre, gleichzeitig Reparations- und „Wiedergutmachungszahlungen“ zu leisten. Man muss allerdings anerkennen, dass die Zahlungen an Israel durch die Bundesrepublik unter anderem damit begründet wurden, dass die Hunderttausenden durch die nationalsozialistische Mordpolitik nach dem Krieg in den KZs überlebenden, jedoch in ihren Ursprungsländern bedrohten Juden in die israelische Gesellschaft eingegliedert werden mussten, was mit einem erheblichen finanziellen Aufwand verbunden war .28


10. Ehemalige Nazis in führenden Positionen der Bundesrepublik boten der DDR eine propagandistische Angriffsfläche

Das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Nachkriegsstaaten war vom ideologischen Gegensatz zwischen bürgerlicher Demokratie und kommunistischer Ideologie, sowie vom kalten Krieg zwischen den beiden Blöcken geprägt. Es ist deshalb nicht zu verstehen, warum der DDR-Führung im Nachhinein vorgeworfen wird, mehr oder weniger belastete ehemalige Nazis in der Führung des bundesdeutschen Staates aufgespürt zu haben, um dadurch diesen Staat als angeblich „faschistisch“ zu delegitimieren. Es wäre eher unverständlich, wenn die DDR als ein ideologischer Gegner der Bundesrepublik diese propagandistische Chance nicht genutzt hätte. In diesem Licht ist auch die Kampagne gegen Adenauers Staatssekretär im Bundeskanzleramt Hans Globke zu sehen, der sich in der Nazizeit als Kommentator der Rassengesetze hervorgetan hat und dabei auf seine Erfahrungen aus der Weimarer Zeit zurückgreifen konnte, wo er bereits 1932 im preußischen Innenministerium judenfeindliche Gesetze formuliert hatte. 29  Mag sein, dass die DDR-Propaganda in manchen Fällen die nazistische Belastung  führender Politiker der Bundesrepublik bewusst übertrieb, im Fall Globkes, der sich schon vor Hitlers Machtantritt als „Spezialist“ in Judenfragen profiliert hatte, war das kaum der Fall.  

Von heutigen Historikern werden zuweilen die entschädigungslosen Enteignungen jüdischer Vermögen und Unternehmen in der Sowjetzone, bzw. der DDR, fälschlicherweise als antisemitisch gedeutet. Dabei waren sie lediglich eine Konsequenz der diktatorischen, antikapitalistischen und sozialistischen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik der kommunistischen Führung und betrafen ebenso nichtjüdische Unternehmer. Antisemitisch ist aber eine Handlung nur dann, wenn sie Juden gegenüber Nichtjuden benachteiligt.



Gabriel Berger


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11. In der DDR wurden die Nazi-Verbrechen früher thematisiert als in der Bundesrepublik

In Ost- und Westdeutschland hatten sich einst ganz unterschiedliche Rituale des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus und an seine Gegner etabliert. Während in der Bundesrepublik der ermordeten Juden und geistig Behinderten, später auch der Sinti und Roma, sowie der Homosexuellen, als der Opfer des nazistischen Rassenwahns und des sozialdarwinistischen Menschenbildes gedacht wurde, galt in der DDR das Gedenken primär den ermordeten kommunistischen Antifaschisten und sowjetischen Kriegsgefangenen, in zweiter Linie den Juden, die in den zahlreichen antifaschistischen Gedenkstädten, wenn überhaupt, dann nur marginal erwähnt wurden, was aber nicht heißt, dass die Ermordung der Juden in der DDR verschwiegen wurde. Der Vorwurf der in der DDR vermeintlich unterlassenen Aufklärung der Bevölkerung über die Nazi-Gräuel an Juden wird nach der Wende in der Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit häufig erhoben. Er entspricht aber nicht meiner eigenen DDR-Erfahrung. Natürlich wurde in meiner Familie aus verständlichen Gründen das nationalsozialistische Massaker an Juden immer wieder thematisiert. Darüber hinaus habe ich aber von diesen Fakten auch in der Schule gelernt. Zudem gehörten Pflichtbesuche von ehemaligen KZs, Theaterstücken und Filmen wie „Ehe im Schatten“, „Professor Mamlock“ oder „Sterne“ über das Schicksal von (nicht kommunistischen) Juden in der Nazizeit schon in den fünfziger Jahren zum schulischen Repertoire. Die „Tagebücher der Anne Frank“ kannte in der DDR jedes Kind und „Nackt unter Wölfen“ war in der Schule Pflichtliteratur. Zwar stellten sich in der DDR die Kommunisten als die wichtigsten Gegner und Opfer der Nazi-Diktatur dar, sie verschwiegen aber keineswegs den Massenmord an den Juden, auch wenn sie aus politischen und wirtschaftlichen Motiven allein die Bundesrepublik als den Nachfolgestaat des Nazireiches bezeichneten und ihr folglich die Gesamtverantwortung für die Gräuel der Nazizeit zuschoben, in moralischer wie in materieller Hinsicht.

Zum diesem Thema äußerte sich im gleichen Sinne Yoav Sapir in seiner 2006 an der Hebräischen Universität Jerusalem eingereichten Mgisterarbeit „Das Bild des Juden im Spielfilm der Deutschen Demokratischen Republik“:


„So wurden zum Beispiel die Ereignisse in der Berliner Rosenstraße im Jahre 1943 schon 1971-72 im dritten Teil der Bilder des Zeugen Schattmann filmisch bearbeitet, also 21 Jahre vor dem bundesdeutschen Dokumentarfilm Befreiung aus der Römerstraße (Michael Muschner, 1993-94) und drei Jahrzehnte vor dem Spielfilm Rosenstraße (Margarethe von Trotta, 2002-3). Dabei figurierten die Juden schon von Anfang an (Ehe im Schatten, 1947) als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung, sodass dieses Stuck Geschichte, im Gegensatz zur mangelhaften Aufarbeitung des Holocaust im Westen, in der DDR nicht beiseitegeschoben oder gar verdrängt wurde.“ 30



12. Grenzen der Aufklärung über den Nationalsozialismus im kommunistischen Diktatursystem

Was in der DDR in der Tat nicht thematisiert wurde und im Gegenteil ein striktes Tabu war, waren die strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen der nationalsozialistischen Hitler-Diktatur und dem realsozialistischen DDR-Staat. Es gab sie im Einparteisystem, im Überwachungs- und Bespitzelungssystem, in paramilitärischen, Kinder-  und Jugendorganisationen, in der Gleichschaltung der Presse- und Kulturlandschaft, im Stil politischer Propaganda, in der Sprache. Die Liste könnte beliebig verlängert werden. Das in der DDR verlegte Buch von Victor Klemperer LTI (Die Sprache des Dritten Reiches) 31  war in der DDR unter den Intellektuellen ein Bestseller, weil man in der von Klemperer beeindruckend beschriebenen Vergewaltigung der Sprache durch die Nationalsozialisten ein Abbild der DDR-Wirklichkeit entdeckte. Von dieser Warte betrachtet konnte die Distanzierung der kommunistischen Machhaber der DDR  vom Nationalsozialismus nur am Kern des Problems vorbei zielen, nämlich dem beiden Systemen immanenten eklatanten Mangel an Bürgerrechten und demokratischen Freiheiten.

Da in vulgär marxistischer Interpretation von SED-Ideologen der „Faschismus“ als eine unmittelbare Folge des kapitalistischen Systems betrachtet wurde32 , wurden die älteren „Werktätigen“ der DDR höchstens als in der Nazizeit „Verführte“ betrachtet und deshalb pauschal von jeder Schuld an Gräueln des Nazi-Regimes und von jeder Verantwortung für diese befreit. Hin und wieder wurde aber in der DDR ein Nazi-Henker enttarnt und gerichtlich zur Verantwortung gezogen. Von solchen Einzelfällen abgesehen galt das Volk der DDR wie der Staat als von einer Schuld oder Verantwortung für die Verbrechen des Naziregimes frei, im Gegensatz zur Bundesrepublik, die in der Propaganda der DDR als Nachfolgestaat des NS-Regimes und als Hort frei lebender Nazi-Verbrecher betrachtet wurde. Folglich wurden in der DDR die Verbrechen des Nazi-Regimes in Medien und in Schulen keineswegs verschwiegen, ganz im Gegenteil. Die mit tiefem Abscheu bedachte Nazi-Vergangenheit wurde aber einseitig dem bundesdeutschen Feind angelastet und so bei ihm „entsorgt“. Man kann der DDR deshalb den Vorwurf machen, dass junge Generationen in diesem Staat aufwuchsen, ohne zu ahnen, geschweige denn zu wissen, dass es nicht irgendwelche gesichtslosen Nazis, sondern ihre Verwandten, Eltern, Großeltern, Onkel, Tanten waren, die durch ihr Schweigen, ihre Billigung oder aktive Mithilfe für die Verbrechen der Nazis zumindest mitverantwortlich waren.


13. Sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik wurde der Widerstand gegen den Nationalsozialismus politisch instrumentalisiert

Im Kontrast zu dem Verschweigen der moralischen Verantwortung auch des „einfachen Volkes“ für das Nazi-System stand in der DDR die ritualisierte Form, in welcher sich die Kommunisten als Gegner des Nationalsozialismus ehren ließen, womit sie sich selbst auf Dauer die Legitimierung zum Führen des „antifaschistischen Staates“ DDR aussprachen. Nur am Rande erwähnte man den sozialdemokratischen und den „bürgerlichen“ Widerstand, dem auch das Hitler-Attentat vom 20 Juli zugerechnet wurde. Ganz anders verhielt es sich in der Bundesrepublik, wo das Hitler-Attentat vom 20. Juli quasi zum Gründungsmythos des westdeutschen Staates erhoben wurde. Der kommunistische Widerstand wurde dort dagegen weitgehend verschwiegen, da doch die Kommunisten als „rot lackierte Nationalsozialisten“ 33  nur einen anderen totalitären Staat im Schilde führten. Dass das Hitler-Attentat vom 20. Juli nicht einen demokratischen Staat zum Ziel hatte und dass es nur deshalb stattfand, weil Hitler von einer Gruppe führender Wehrmacht-Offiziere für unfähig befunden wurde, einen siegreichen Krieg zu führen, wurde und wird in der Bundesrepublik weitgehend verschwiegen. In einem Punkt scheint demnach zwischen Ost- und Westdeutschland eine Gemeinsamkeit bestanden zu haben: Im Verschweigen wichtiger Fakten und Hintergründe. Meist ging es aber nicht um Verschweigen, sondern um unterschiedliche Wertesysteme, aus denen unterschiedliche Gewichtungen und Bewertungen von Fakten folgten. Die Behauptung, es hätte in der DDR keine Aufklärung über die Nazizeit und insbesondere über den Massenmord an Juden gegeben, ist folglich als unwahr einzustufen. Man kann lediglich mit den aus den historischen Fakten in der DDR gezogenen Schlüssen nicht einverstanden sein, was aber in modifizierter Form auch für die Bundesrepublik gelten sollte.


14. Nazi-Ideen als Widerstandskonzept für Gegner der DDR

Wenn es vor und nach der Wende auf dem Gebiet der DDR bei manchen Menschen zu einer Renaissance nazistischen Gedankenguts kam, lag das weniger an fehlender Aufklärung über den Nationalsozialismus, als vielmehr an der allgemeinen Ablehnung der als lügenhaft wahrgenommenen DDR-Propaganda. Die extrem negative Beschreibung und Bewertung der Nazizeit in Medien und Schulen der DDR wurde in Teilen der Bevölkerung als Zweckpropaganda gewertet und verlor bei ihnen deshalb ihre Glaubwürdigkeit. Zudem erfolgte schon in der DDR-Zeit bei vielen Jugendlichen eine Hinwendung zum nationalsozialistischen Gedankengut, nach dem Motto „der Feind meines Feindes ist mein Freund“, was durch die strukturellen Ähnlichkeiten des Nationalsozialismus und des realen Sozialismus zusätzlich begünstigt wurde. Zuweilen äußerte sich diese Haltung in demonstrativen Aktionen, wie Hakenkreuzschmierereien oder Schändungen jüdischer Friedhöfe. Auch war seit Mitte der achtziger Jahre, besonders in Ostberliner Stadtteilen Marzahn und Lichtenberg, eine Skinhead-Szene präsent, die ganz offen mit Nazi-Symbolen provozierte. Etwas verkürzt formuliert kann gesagt werden, dass es in der DDR eine weitgehend unorganisierte nationalsozialistische oder zumindest auf das nationalsozialistische Gedankengut zurückgreifende Opposition gegen das herrschende kommunistische Regime gegeben hat, die die Zeit des Nationalsozialismus idealisierte und verherrlichte. Neben den „sozialen Errungenschaften“ vor Kriegsbeginn, etwa Autobahnbau, Wohnungsbau, „Kraft durch Freude“ und den Stolz einflößenden Großmachtambitionen des Nazireiches, wurde von den Nazi-Jüngern in der DDR der radikale Umgang der Nazis mit ihren kommunistischen Widersachern bewundert und als Vorbild angesehen.

Als durchschnittlicher Bürger wurde man kaum mit der am Rande der Gesellschaft agierenden Nazi-Szene konfrontiert. Es gab aber spätestens in den achtziger Jahren nach außen sichtbare starke Skinhead-Gruppen in Jugendklubs. Zudem formierten sich, für die Öffentlichkeit verborgen, vermutlich kontinuierlich seit dem  Untergang des Nazireiches, in ostdeutschen Gefängnissen Gruppierungen von Ewiggestrigen, die Nazi-Traditionen an jeweils neue Generationen  von Gefangenen weiterreichten und das Ziel verfolgten, nach der Entlassung aus der Haft  die „nationale Bewegung“ in das Volk zu tragen. Von Fällen dieser Art erfuhr man nur, wenn man das zweifelhafte Vergnügen hatte, im DDR-Gefängnis zu landen. So war es in meinem Fall, nach meiner Verhaftung wegen „Staatsverleumdung“. In der Dresdner Stasi-U-Haft wurde mir die folgende Begebenheit vom Ende der sechziger Jahre aus einem Arbeitslager für Kleinkriminelle und „Asoziale“ im Norden der DDR erzählt:


Da in dem Lager auch die Zuteilung der Bekleidung durch Gefangene selbst erfolgte, konnte man gegen Bezahlung auch Sonderwünsche realisieren. Das tat insbesondere ein in jener Zeit in dem Lager berühmter Häftling, der sich eine braun gefärbte Uniform und hohe Offiziersstiefeln besorgen ließ. Von nun an ließ er sich von anderen Häftlingen als „mein Führer“ anreden. Der „Führer“ scharrte eine Gruppe von Jüngern um sich, die sich ebenso wie er braun einkleideten. Er pflegte, sich im Freien vor seinen Anhängern auf eine Kiste zu stellen, und in der Führer-Pose mit rauer Führer-Stimme Reden über die großen Aufgaben zu halten, die vor Deutschland stünden. Der Kreis seiner begeisterten Anhänger wuchs beständig. Bevor sie sich langfristig der „nationalen Aufgabe“ zuwandten, mussten sie sich kurzfristig für die Stunde null wappnen, für den Akt ihrer Selbstbefreiung aus dem Lager. Der „Führer“ stimmte seine Jünger auf diese Aufgabe ein, die ihnen wegen der schwachen Bewachung nicht so schwierig erschien. Die vier Wachposten mussten entwaffnet werden, alles andere war nur ein Kinderspiel. Die Aufgaben wurden verteilt, der Ernstfall mehrfach am grünen Tisch durchgespielt. Es konnte kaum etwas schief gehen. Doch am Tage vor der geplanten Stunde null rollten LKW-s mit Bereitschaftspolizisten auf das Lagergelände. Der „Führer“ und seine Jünger wurden abtransportiert. Der braune Spuk war vorbei. 34 


Da die DDR-Propaganda ihren Bürgern einhämmerte, die Bundesrepublik sei ein „faschistischer“ Staat, in welchem Altnazis das Sagen hätten und Neonazis das Leben beherrschten, kam es nicht selten vor, dass DDR-Flüchtlinge oder  -Übersiedler entsetzt feststellten, dass die Bundesrepublik nicht das von ihnen erträumte Nazi-Land war. Dabei wurde allerdings in der DDR von den Nazi-Jüngern oft eine Soft-Version des Nazismus vertreten, ohne den für die Altnazis obligatorischen Antisemitismus. Der Massenmord an den Juden wurde weitgehend ausgeblendet, was nicht zuletzt ein Ergebnis der DDR-spezifischen Interpretation des Nationalsozialismus gewesen ist. Galten doch in der DDR-Propaganda die Kommunisten als die primären Opfer des Nationalsozialismus, nicht die Juden. Nach der Wende wurde unter dem Einfluss westdeutscher Propagandisten in ostdeutschen Nazikreisen die häufig neutrale Haltung zu den Juden gegen die Auschwitz-Lüge und die „Protokolle der Weisen von Zion“ 35  eingetauscht.


15. „Jude“ war in der DDR ein abstrakter Begriff

Da man in der DDR im täglichen Leben kaum Umgang mit Juden hatte, wurde für die meisten DDR-Bürger „Jude“ zu einem abstrakten, unwirklichen Begriff aus der nationalsozialistischen Vergangenheit, in der die Juden, bedingt durch den Massenmord, aufhörten zu existieren. Es wurde in der DDR bis Mitte der achtziger Jahre von Juden kaum gesprochen, schon gar nicht in den Familien, sie waren im Bewusstsein der Mehrheit der Bevölkerung nicht Teil der DDR-Wirklichkeit, was um so leichter fiel, als sich die wenigen in der DDR lebenden Juden meist nicht als solche zu erkennen gaben. Wenn sich die DDR-Propaganda aggressiv gegen Israel wandte, wurde dabei bewusst nicht erwähnt, dass es sich bei der Bevölkerung dieses Staates um Juden handelte. So erkannte ein Großteil der jüngeren Bevölkerung keinen Zusammenhang zwischen den von den Nazis verfolgten und ermordeten Juden und den in Israel lebenden Menschen. Man konnte vom Tagebuch der Anne Frank oder vom Schicksal von Janusz Korczak36  emotional tief bewegt sein und zugleich Hasstiraden gegen den „aggressiven zionistischen Staat Israel“ ablassen.



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16. Warum gab es nach der Wende in neuen Bundesländern deutlich weniger Antisemiten als in den alten?

Die Kritiker der in der DDR angeblich nicht erfolgten Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus bleiben die Antwort auf ein äußerst gravierendes Phänomen schuldig. In den nach der Wende, beginnend mit dem Jahr 1991, durchgeführten Umfragen zum Thema antisemitische Einstellungen in der deutschen Bevölkerung, schnitten die neuen Bundesländer regelmäßig viel besser ab, als die alten. Glaubt man den Umfragen, so waren bis vor kurzem antisemitische Einstellungen in den alten Bundesländern doppelt so häufig anzutreffen als in den neuen und das trotz der im Osten gravierenden Fremdenfeindlichkeit. 37  Im Jahre 2002 etwa wurden in den alten Bundesländern bei 14,2% der Menschen antisemitische Einstellungen diagnostiziert, dagegen bei nur 7% in den neuen Bundesländern. Juden wurden folglich im Osten, im Gegensatz zum Westen, kaum als störende Fremde wahrgenommen, vielleicht deshalb weil man dort keinen Juden begegnete. Ob das ein Erfolg der DDR-Propaganda und Aufklärung war, sei dahin gestellt. Denn in Schulen der DDR wurde nicht, wie seit den achtziger Jahren in den Bundesrepublik und seit der Wende in den neuen Bundesländern, darauf verwiesen, dass es nicht wenige, inzwischen meist verstorbene, Angehörige der Schüler waren, die den Juden das Leid zugefügt hatten. Die Schüler in der DDR hatten folglich nicht das Problem, sich womöglich vom Verhalten eigener Verwandten distanzieren zu müssen, was heute ohne Frage bei vielen jungen Leuten im Osten wie im Westen radikale Abwehrreaktionen auslöst. In Umfragen unter schulpflichtigen Jugendlichen in den neuen Bundesländern ist in den letzten Jahren ein rapider Anstieg antisemitischer Haltungen registriert worden. 38  Daraus kann man den Schluss ziehen, dass die Qualität der Vermittlung der Geschichte des Nationalsozialismus, wie auch sozialer Kompetenzen, an deutschen Schulen sehr zu wünschen übrig lässt.

Um das angesichts der auffälligen Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland verwirrende Phänomen des vergleichsweise schwachen Antisemitismus zu illustrieren, verweise ich auf eine Begegnung, die ich im Jahre 1976 als politischer Häftling im Strafvollzug Cottbus hatte. Während der im DDR-Strafvollzug obligatorischen Arbeit wurde ich in der Fabrikhalle von einem jungen Mithäftling angesprochen, der sich ganz offen zur nationalsozialistischen großdeutschen Ideologie bekannte. Als er während des Gespräches von meiner jüdischen Abstammung erfuhr, reagierte er völlig überraschend. Er äußerte, es sei Hitlers größter Fehler gewesen, gegen die Juden vorzugehen und der Grund für seinen Untergang. Die Juden seien nämlich heute wie damals potentielle Bündnisgenossen im Kampf gegen den Kommunismus, was Hitler leider nicht erkannt habe. Sie hätten in Israel bewiesen, dass sie kämpfen können. 39  Solche absonderlichen Haltungen passen aber nicht in das politische Raster westlicher Soziologen und Politologen, machen folglich die Schlussfolgerungen aus ihren Umfragen im östlichen Teil Deutschlands im hohen Masse fragwürdig.


17. Erst seit den achtziger Jahren ist die Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit in der Bundesrepublik eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Ohne die DDR beschönigen zu wollen sollte man auch nicht vergessen, dass in der Bundesrepublik, ungeachtet der Gerichtsprozesse gegen Nazi-Täter und zahlreicher kritischer Publikationen über Zeit des Nationalsozialismus, bedingt durch Verdrängungsmechanismen, der nationalsozialistische Judenmord Jahrzehnte lang lediglich eine Sache der Historiker war und kaum ins Bewusstsein der Bevölkerung drang, mit Ausnahme einiger „Achtundsechziger“ in der studentischen Szene. Zudem drückten sich sehr viele Geschichtslehrer hartnäckig davor, das Thema in der Schule zu behandeln. Erst 1979, 34 Jahre nach dem Untergang des Nationalsozialismus, wurde die bundesdeutsche Bevölkerung durch den Hollywood-Film „Holocaust“ geschockt und für das Thema sensibilisiert. Ich lebte damals seit zwei Jahren in Westberlin und war von der Reaktion, die der Film auslöste, sehr überrascht, weil er mir weder neue Informationen, noch ein neues Bild der Nazigräuel vermittelte. Mein Denken und meine Erfahrungswelt waren aber zum erheblichen Teil ein Produkt der DDR.

Erst seit den achtziger Jahren wurde in der Bundesrepublik die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden. Wesentlich hierfür war der inzwischen, 40 Jahre nach dem Krieg, erfolgte Generationenwechsel, insbesondere das Verschwinden potentiell belasteter Personen aus staatlichen Ämtern, Universitäten, Krankenhäusern, der Justiz und Verwaltung, nicht wegen ihrer Mitverantwortung oder Schuld in der Nazizeit, sondern aus rein biologischen Gründen. Vielleicht hatte in den achtziger Jahren auch in der DDR der Generationenwechsel die Öffnung des Landes gegenüber Juden und Israel befördert. Es wäre eine interessante Aufgabe für Historiker, diese Möglichkeit zu prüfen.

Der Unwille von Teilen der deutschen Bevölkerung, die Gräuel der Nazizeit zur Kenntnis zu nehmen, wurde nach der Wende und der deutschen Vereinigung besonders im Zusammenhang mit der „Wehrmachtausstellung“ deutlich. Nach wie vor war ein erheblicher Prozentsatz der Deutschen, in den alten wie neuen Bundesländern, nicht bereit, den Mythos der strengen Unterscheidung zwischen der verbrecherischen SS und der „humanen“ Wehrmacht aufzugeben.


18. Fazit

Als Überlebende des Holocaust waren Juden mindestens seit Anfang der sechziger Jahre in der DDR materiell und sozial privilegiert, sofern sie sich politisch nicht vom Staat abwandten. Sie waren als Gruppe den gleichen Repressionen seitens der Staatssicherheit ausgesetzt, wie die ganze Bevölkerung. Das Misstrauen des Staates richtete sich gegen die christliche Religion mindestens ebenso stark, wie gegen die jüdische. Es gab nichtjüdische wie jüdische Stasi-Spitzel. Außer in den frühen 50-ger Jahren fand in der DDR eine Benachteiligung von Juden gegenüber anderen Bürgern nicht statt. Doch auch damals fiel die juristische Verfolgung jüdischer oder mit Juden sympathisierender kommunistischer Funktionäre, die bekanntlich auf Anordnung Stalins erfolgte, in der DDR vergleichsweise mild aus, es wurden nicht wie in der Sowjetunion, in der CSSR oder in Ungarn Todesurteile ausgesprochen und vollstreckt. Eine Instrumentalisierung antisemitischer Vorurteile für politische Zwecke ist aber in der DDR nach dem Tod Stalins im Jahre 1953 nicht nachweisbar, im Gegensatz etwa zu Polen, wo politische Krisen zu von der Partei und dem Staatsapparat initiierten Wellen des Antisemitismus führten, so 1956 und 1968.40 Die undifferenzierte, extrem antiisraelische Politik und Propaganda der DDR ist allerdings als antisemitisch einzustufen, weil sie unausgesprochen die Vernichtung des Staates Israel und Ermordung seiner jüdischen Bürger durch die arabischen Nachbarländer in Kauf nahm. Zu Repressionen gegenüber jüdischen Bürgern der DDR konnte sie aber nur dann führen, wenn sich diese proisraelisch äußerten. Doch auch solche Repressionen sind nicht als antisemitisch zu werten, weil sie sich gleichermaßen gegen nichtjüdische Freunde Israels richteten.

Die Rechtslage für politisch Andersdenkende war in der DDR denkbar schlecht. Ebenso kann die Situation von Religionsgemeinschaften in dem sich als atheistisch definierenden Staat beurteilt werden, der alle Religionen gleichermaßen als „Relikte der bürgerlichen und feudalen Vergangenheit“ nur widerwillig duldete. Daraus und aus der von der Sowjetunion inspirierten Israel-Feindlichkeit lässt sich wohl der Vorwurf des antizionistischen Antisemitismus, nicht aber der Judenfeindschaft an den DDR-Staat ableiten. Letztere ist im Gegenteil als gegenstandslos zu betrachten, es sei denn man bewertet das weitgehende Ausblenden realer Juden aus der Nachkriegswirklichkeit als judenfeindlich. Der Verdacht liegt nahe, dass einige einst belastete Unterstützer und Nutznießer des DDR-Systems aus dem jüdischen Umfeld durch den nach der Wende im Nachhinein an die DDR gerichteten generellen Antisemitismusvorwurf die Öffentlichkeit von der eigenen Mitschuld oder zumindest Mitverantwortung für das damalige Unrecht ablenken möchten.



[... zu Teil 1]



ANMERKUNGEN



21 Eine Arbeits-Definition von Antisemitismus nach der European Union Agency  for Fundamental Rights (ehemals EUMC) (28.01. 2005) . Quelle: http://fra.europa.eu/fraWebsite/material/pub/AS/AS-WorkingDefinition-draft.pdf.

22 Der Sinai-Krieg, in welchem Israel gemeinsam mit britischen und französischen Truppen die ägyptische Sinai-Halbinsel besetzte, sich aber der amerikanischen Forderung nach einem Rückzug beugte.   

23 Der Sechstagekrieg Israels gegen Ägypten, Syrien und Jordanien, der zu der bis heute andauernden Besetzung arabischer Territorien führte.

24 Der Yomkipur-Krieg, in  dessen Folge es 1979 zum ägyptisch-israelischen Friedensvertrag kam.  

25 Der Libanon-Krieg. Israel griff in den Libanesischen Bürgerkrieg ein, weil von dort aus von der PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) permanent   Anschläge auf Israel verübt wurden.

26   Michael Wolffsohn, „Die Deutschland-Akte. Tatsache und Legenden“;  Edition Ferenczy bei Bruckmann; 1995.

27 Kai Bird, The Chairman, John J. McCloy: The Making of the American Establishment, New York 1992, S. 201-227, 314-315, 334-336, 479-482.

28 Helmut Eschwege; „Fremd unter meinesgleichen: Erinnerungen eines Dresdner   Juden“; Ch. Links Verlag Berlin; 1991.

29 Z.B. in Raul Hilberg, „Die Vernichtung der europäischen Juden“; Geschichte Fischer; 1991; Erik Lommatzsch: Hans Globke (1898 – 1973). Beamter im Dritten Reich und Staatssekretär Adenauers, Frankfurt a. M./New York: Campus 2009.

30 http://www.scilogs.de/chrono/blog/un-zugeh-ouml-rig/ostdeutsche-judenfrage/2009-05-03/ostdeutsche-judenfrage. Online-Veröffentlichung der Magisterarbeit "Die Auflösung der Judenfrage. Das Bild des Juden im Spielfilm der DDR", erforscht und geschrieben von: Yoav Sapir, Hebräische Universität Jerusalem, 2004-2006.

31 LTI – Notizbuch eines Philologen, Reclam Verlag Leipzig, Berlin, 1947. 

32 Georgi Dimitroff: Faschismus ist „die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“. Aus Georgi Dimitroff: „Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus.“ 2. August 1935.

33 So der führenden Sozialdemokrat Kurt Schuhmacher im Jahre 1930 auf einer Gaukonferenz des Reichsbanners Württemberg.

34 Gabriel Berger: „Ich protestiere also bin ich. Erinnerungen eines Unangepassten.“; trafo Verlag Berlin 2008.

35 Es wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von unbekannten Redakteuren auf der Grundlage mehrerer fiktionaler Texte erstellt und gilt als einflussreiche Programmschrift antisemitischen Verschwörungsdenkens.

36 Polnisch-jüdischer Arzt, Pädagoge und Schriftsteller; begleitete 1942 freiwillig etwa 200 Kinder eines Kinderheims in das KZ Auschwitz, wo neben den Kindern auch er ermordet wurde.

37   http://www.presse.uni-erlangen.de/infocenter/presse/pressemitteilungen/forschung_2003/12/676wittenberg.shtml;
Deutscher Bundestag, Drucksache 17/7700 2011; Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus

38 Ebenda.

39 Genau beschrieben in: Gabriel Berger, „Ich protestiere, also bin ich. Erinnerungen eines Unangepassten“; trafo Verlag Berlin, 2008.

40 Einer meiner polnischen Freunde reagierte auf meinen Beitrag, indem er daran zweifelte, dass in der kommunistischen Zeit die DDR-Führung Juden gegenüber menschlicher gewesen sei als die polnische. Ich erläuterte meine Auffassung zur Haltung in den Nachkriegsstaaten Polen und in der DDR zum Antisemitismus wie folgt:
 

„Lieber Wlodek,
in wenigen Sätzen will ich Dir den Unterschied zwischen Polen und der DDR in der Haltung zum Antisemitismus erläutern.
In Nachkriegspolen war man  ganz selbstverständlich antideutsch, weil doch die Deutschen die schlimmen nazistischen Eroberer und Besatzer gewesen sind. Dahinter verbarg sich aber keine gründliche Analyse der Wurzeln und der Besonderheiten der „deutschen Bösartigkeit“. Die Deutschen waren böse, weil sie brutale Besatzer Polens gewesen sind und weil in ihnen eine genetisch codierte Aggressivität steckte. Dass sie Juden ausrotteten war in Polen kein Geheimnis, es wurde aber nicht an die große Glocke gehangen. In Auschwitz wurden die toten Juden im Wesentlich unter Polen subsummiert. Der Antisemitismus wurde in Polen nicht  als fester Bestandteil des „deutschen Faschismus“ , sprich Nationalsozialismus, benannt. Man konnte in Polen ein Antisemit und dennoch ein guter Mensch sein. Ein Antisemit galt in Polen nicht als ein „Faschist“ oder Nazi. Nazis, das waren nur die Deutschen. Jeder gute Pole machte sich über Juden öffentlich lustig. Niemand hat ihn dafür einer nationalsozialistischen Gesinnung bezichtigt.
Ganz anders war es in der DDR. Zwar wurde dort von den herrschenden Kommunisten der Kapitalismus als die Ursache des „Faschismus“, auch des deutschen, angesehen, aber der Rassismus der Nazis und ihr Antisemitismus galten in der DDR als feste Bestandteile des als „Faschismus“ bezeichneten Nationalsozialismus. Es galt folglich die einfache Formel: Ein Antisemit ist ein Nazi, mit der harten Konsequenz, dass man als Antisemit vor Gericht als Nazi verurteilt wurde. Dass es wegen des in der DDR herrschenden Stalinismus und wegen der von der Sowjetunion diktierten antiisraelischen Haltung zur Konfusion in der Benennung von Antisemiten kam, ist ein anderes Thema. Aber für Judenwitze konnte man in der DDR sehr hart bestraft werden, was in Polen nicht der Fall war. In der so von den Herrschenden erzeugten Atmosphäre der Angst trauten sich die Antisemiten nicht, ihre Meinung offen auszusprechen, weil in dem bekannten Stasi-Spitzelsystem Sanktionen nicht auszuschließen gewesen wären. Ich will damit nicht sagen, dass die DDR-Gesellschaft menschlicher als die polnische gewesen ist, aber der Schuss Preußentum im Wesen der DDR-Deutschen machte sie disziplinierter und den Behörden höriger, auch im Unterdrücken des Antisemitismus. Ein offener Antisemitismus war für die DDR-Führung undiskutabel, weil er als Element des Nationalsozialismus galt. 
Es würde Polen, wie auch Ungarn, heute gut tun, wenn sich dort die einstmals in der DDR geltende einfache Formel durchsetzen würde: Ein Antisemit ist ein Nazi.
Grüße, Gabriel“




Der Autor

GABRIEL BERGER

... wurde 1944 als Sohn eines aus Nazideutschland geflüchteten jüdischen Kommunisten im französischen Versteck geboren. Sein Vater ging 1948 freiwillig nach Polen, um dort den Sozialismus aufzubauen. Der polnische Antisemitismus zwang ihn jedoch 1957, seine Teilnahme am sozialistischen Experiment in die DDR zu verlegen.

Gabriel Berger besuchte in Leipzig die Oberschule und studierte in Dresden Physik. Danach war er in der Kernforschung tätig. Nach der erneuten antisemitischen Welle in Polen und dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings im Jahre 1968 verlor der junge Physiker den Glauben an eine Demokratisierung des realen Sozialismus. 1975 stellte er einen Antrag auf Übersiedlung in die Bundesrepublik. 1976 wurde er unter dem Vorwurf der „Staatsverleumdung“ verhaftet. Nach einjähriger Haft übersiedelte er nach Westberlin. Dort arbeitete er zunächst im kerntechnischen Bereich, später als Informatiker. In den achtziger Jahren studierte er Philosophie und veröffentlichte Beiträge in Zeitungen und im Rundfunk. Inzwischen ist er Rentner und als Buchautor tätig.

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