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ONLINE-EXTRA Nr. 127

Oktober 2010

Viel ist in letzter Zeit vor dem Hintergrund der Integrationsdebatte und der Frage nach der Stellung des Islam im europäischen Kontext von "christlich-jüdischen Traditionen", "christlich-jüdischem Erbe", oder gar "christlich-jüdischem Geist" u.ä. zu lesen und zu hören. Jenseits der Fragwürdigkeit all dieser Termini, die entgegen allen historischen Befunden stillschweigend insinuieren, es habe in den letzten zweitausend Jahren ein gedeihliches Miteinander von Juden und Christen, eine gleichrangige Akzeptanz beider Religionen und eine davon ausgehende, gleichermaßen prägende Wirkung in der Entwicklung Europas gegeben, jenseits dieser Fragwürdigkeiten wird erst recht verdrängt, dass es schon alleine zwischen der jüdischen und der christlichen Art und Weise, die Welt und die Wirklichkeit zu sehen und auf sie zu reflektieren, gravierend unterschiedliche Prägungen gibt.

Der evangelische Pfarrer und Theologe Andreas Goetze, Autor des heutigen ONLINE-EXTRA, weist zu Beginn seines Beitrages auf einen dieser gravierenden Unterschiede hin, nämlich die stark hellenistische Prägung unserer, der christlichen Kultur und Religion, was sich nicht zuletzt auf unser Verständnis der Bibel und die Formulierung von Glaubensaussagen auswirkt. Dem gegenüber ist zu sehen, dass sowohl die Grunddokumente der jüdischen Religion und Kultur, die hebräische Bibel, als auch die Person Jesus selbst, in einer semitisch geprägten, aramäisch-hebräischen Denk- und Sprachkultur vewurzelt sind.

Goetze versucht die Unterschiede zwischen diesen beiden "Denkweisen" - der hebräischen und der hellenistischen - u.a. am Beispiel des Wahrheits- und Wirklichkeitsverständnisses herauszuarbeiten und beschreibt die theologischen/religiösen Konsequenzen, die diese Unterschiede für "unser Reden von Gott und über Wahrheit" zur Folge haben und haben sollten. 


COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe seines Textes an dieser Stelle!

© 2010 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 127


Wie wirklich ist die Wirklichkeit? - oder: was verstehen wir unter Wahrheit?

Vom aramäischen und hellenistischen Denken


ANDREAS GOETZE

Wir leben in der so genannten abendländischen Kultur, die bei all den verschiedenen kulturellen und religiösen Einflüssen sehr stark hellenistisch geprägt worden ist. Wir machen uns in der Regel keine Gedanken darüber, wie dieses hellenistische Denken unsere ganzen Vorstellungen der Welt und unsere Art, auf die Dinge zuzugehen, bestimmt. Wir sind es ja so gewohnt und können uns nur schwer vorstellen, dass man die Dinge auch anders sehen kann. Geprägt von dieser abendländischen Kultur und ihren Denkstrukturen betrachten wir auch die Bibel und begreifen die Aussagen unseres Glaubens.

Wollen wir aber wirklich die Bibel und die Wurzeln unseres Glaubens verstehen, so ist es hilfreich, sich mit der semitischen Sprach-, Denk- und Lebensweise vertraut zu machen. Zur semitischen Sprachfamilie gehört das Aramäische ebenso wie das Hebräische. Lernen wir die Grundzüge des aramäischen (hebräischen) Denkens verstehen, kommen wir dem Denken im Alten Testament (der hebräischen Bibel) ebenso näher wie dem Denken Jesu und Paulus. Gerade der letztgenannte, obwohl er griechisch sprach, ist als Jude im aramäischen Denken tief verwurzelt.

Grundsätzlich ist auf den wichtigsten Unterschied zwischen hellenistischem und aramäischem (hebräischem) Denken, zwischen westlichem und semitischem Kulturkreis aufmerksam zu machen. Aufgrund der Bedeutung dieses Unterschiedes ist es lohnend, diesen Aspekt ausführlicher darzustellen. Das biblische Wahrheitsverständnis ist eng verbunden mit der aramäischen Wort „am`m“; was die Grundbedeutung von „fest, zuverlässig, tragfähig sein“ hat. „ämunah“ (in diesem aramäischen Wort steckt das uns bekannte Wort „Amen“ drin) bezeichnet nicht einen abstrakten Sachverhalt, sondern ein menschliches oder göttliches Verhalten gegenüber anderen, ist also ein Beziehungsbegriff. Er beschreibt die Erfahrung und Bedeutung von Wahrheit im Sinne von Zuverlässigkeit und Treue.

Mit anderen Worten: Das aramäische bzw. hebräische Denken ist nicht abstrakt wie das hellenistische Denken interessiert am „An-und-für-sich-Sein“ von irgendwem, auch nicht von Gott. Statt sich über „Gottes Sein an sich“ Gedanken zu machen, steht Gottes Wirken und seine Funktion „für die Menschen“ im Mittelpunkt des Denkens. Die Wahrheit geschieht, ereignet sich sozusagen in der Begegnung. Anders als das hellenistische Denken bewegt man im semitischen Kulturkreis nicht statisch-ontologische bzw. naturhaft-ontologische Fragestellungen, sondern existentiell-relationale. Die hellenistische erkenntnistheoretische Frage: „Was ist Wahrheit?“ wird existentiell-relational gefasst: „Wie geschieht Wahrheit?“.

In der Beziehung bewahrheitet es sich, ob der andere verlässlich ist: Jesus Christus ist der „Sohn Gottes“, weil er sich in den Begegnungen mit den Menschen bewahrheitet bzw. bewährt hat. Eine Christologie auf diesem Hintergrund ist eher – wie es bis heute im syrischen Christentum bzw. in der „Kirche des Ostens“ anzutreffen ist - funktional bestimmt (wer ist Jesus für mich?) als ontologisch-statisch gefärbt (wer ist Jesus Christus an und für sich?). Sie ist mehr interessiert an den Werken der Offenbarung in der Geschichte und dem Beweis der Macht und Wahrheit Gottes bzw. Jesu Christi als an abstrakten, zeit- und geschichtslosen Seinsaussagen über Gott oder Christus selbst. Es verwundert nicht, dass das syrische Christentum ebenso wie das Judentum weniger an Dogmen interessiert ist als an glaubwürdiger Lebenspraxis.

In den folgenden Thesen möchte ich diesen grundsätzlichen Unterschied weiter ausführen und vertiefen. Es geht dabei nur vordergründig um „Denken“: Vielmehr geht es um eine sehr verschiedene Weise, Gott, die Welt und den Menschen zu verstehen und diese drei in ein Verhältnis zu setzen.


I. Vom griechischen zum hellenistischen Denken

1. Ausgangspunkt des abendländischen Denkens ist das griechische Denken. Wahrheit (griech.: „alätheia“) denkt ursprünglich Wahrheit und Wirklichkeit zusammen. Für Aristoteles (322 v. Chr.) gilt: Wahrheit ist „der wirkliche Tatbestand, sind die aufweisbaren Dinge, ist die Sache selbst“. Die sichtbare Wirklichkeit ist die Wahrheit.

2. Wahrheit wird als Sach- bzw. Satzwahrheit gesehen. Der griechische Mensch begreift Wahrheit als zeitlose und geschichtslose Größe, d.h. immer und ewig gültig (hier bedeutet „ewig“ das gleiche wie „zeitlos“, „unbegrenzt“).

3. Die nächste größere Entwicklungsstufe beschreibt Platons Höhlengleichnis: Der Mensch, so Platon, nehme nur die Schatten an der Rückwand einer Höhle wahr, halte sie für wirklich, wenngleich sie nur Abbilder von Gegenständen außerhalb der Höhle seien. Und diese Gegenstände seien selbst wiederum nur Abbilder der Ideen.

4. Platon unterscheidet damit die ursprünglich-wahre Wirklichkeit (die Welt der Ideen) von der – dem Menschen allein zugänglichen, abgeleiteten schattenhaften Wirklichkeit. Den sichtbaren Dingen selbst wird also nicht mehr Wahrheit zugesprochen, sondern den unsichtbaren Ideen. Die eigentliche Wahrheit liegt nicht in den sichtbaren Dingen selbst (wie bei Aristoteles), sondern hinter und über den Dingen. Und es sei erste Aufgabe der Philosophen, so Platon, den Menschen vom Schein zu befreien und ihn mit dem wahren Sein vertraut zu machen.

5. Das Göttliche ist demnach: das An-und-für-sich-Seiende, das In-sich-selbst-Ewige, das Überall-dasselbe-Seiende. Sofern der Mensch das rechte Wissen um die Wahrheit besitzt, gewinnt er Verständnis an dem einen und wahren Sein. Der Akt der Befreiung von dem trügerischen Schein des Sichtbaren („wir Menschen sehen nur die Höhlenschatten…“) ist der „Aufstieg der Seele zur Betrachtung der oberen Dinge“. Platon vertritt die Auffassung von verschiedenen Stufen der Wahrheit, die die Seele von unten nach oben durchlaufen muss, um zuletzt und unter Mühen die „Idee des Guten“ als Ursache alles Richtigen und Schönen, von Wahrheit und Vernunft zu erblicken.

6. Die platonische Unterscheidung von ursprünglich-wahrer (göttlicher) und abgeleitet-schattenhafter Wirklichkeit wird im Hellenismus (griechisches Denken unter Einfluss persischen Denkens: Zarathustra, Manichäer, denen als Denkstruktur der Gegensatz eines guten und eines bösen Prinzips zugrunde liegt) zu einem kosmischen-metaphysischen Dualismus verschärft. Redet Platon noch von einem „göttlichen Prinzip“, das der Mensch nur abgeleitet wahrnehmen kann, wird nun aus dem Schattenhaft-Abgeleiteten ein eigenes Prinzip, das dem göttlichen entgegensteht. Dieser Dualismus mit einem guten und bösen Prinzip ist vor allem von Philo und der Gnosis weiterentwickelt worden (heute erkennbar in weiten Teilen der Esoterik, Theosophie und in deren Weiterentwicklung, der Anthroposophie Rudolph Steiners, säkularisiert im Wellness-Kult, der „Gesundheitsreligion“).

7. Aus der Skepsis gegenüber der wahren Erkenntnis der Wirklichkeit bei Platon wird ein Gegensatz: Die Wahrheit ist dem Menschen verschlossen. Er hat an ihr nur Anteil, wenn er die Grenzen des Menschlichen sprengt. Alles Irdische ist vergänglich, alles Vergängliche auf der Erde verfällt der Lüge, ist dem „bösen Prinzip“ unterworfen.

8. Folge: Wahrheit ist „das unvermischte Gute, das weder vom Stoff getrübt noch vom Körper umgeben wird; die unverhüllte Leuchte, das unveränderliche Unwandelbare“. Damit ist der Boden des ursprünglich griechischen Wahrheitsverständnisses, das Wirklichkeit und Wahrheit zusammendachte, verlassen und durch die Antithese zwischen göttlicher Wahrheit und menschlicher Wirklichkeit ersetzt.

9. Der hellenistische Wahrheitsbegriff kann austauschbar gebraucht werden für die „göttliche Substanz“ (Ousiá) oder Macht (Dynamis) oder die „offenbarende Erkenntnis (Gnosis) oder das „unvergängliche Leben“ (Zoé) oder das „unveränderliche Licht“ (Phoos). So kommt es zu der eigentümlichen Nähe von Wahrheit, Erkenntnis, Leben, Licht.

10. Zusammenfassend: Die im Verlauf der griechischen Geistesgeschichte gegebenen Antworten auf die Frage: „Was ist Wahrheit?“ entfernen sich zunehmend von der Wirklichkeit der sichtbaren Dinge und münden in einem Dualismus, dem Gegensatz zwischen unveränderlicher, überirdischer Wahrheit und veränderlicher, irdischer Wirklichkeit.



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II. Das aramäische (hebräische) Denken

1. Das biblische Wahrheitsverständnis, eng verbunden mit dem hebräischen Wort „am´m“, ist nicht abstrakt. Es ist keine Frage nach einem „absoluten An-und-für-sich-Sein“, sondern für die Bibel ist Wahrheit gleichbedeutend mit „Zuverlässig-Sein“ - von Dingen, Tatbeständen, Menschen und insbesondere Gott. Wahrheit geschieht in der Begegnung. Gottes Wahrheit ist seine verlässliche Bundestreue, die Recht schafft und für Gerechtigkeit sorgt.

2. Die griechische erkenntnistheoretische Frage: „Was ist Wahrheit?“ kennt die hebräische Bibel (das AT) nicht. Stattdessen wird nach dem Verlässlichen gefragt („Wie geschieht Wahrheit?“): Was ist so verlässlich, dass es der Existenz in Zeit und Geschichte Bestand verleiht? „Ewig“ meint daher nicht „zeitlos“, sondern „wahrhaftig“, „beständig bleibend“, „auf Dauer treu“ und ist ein Beziehungswort. Ohne tragfähige (Gottes-)Beziehung keine wahrhaftige Rechtsprechung, kein Recht und auch keine (bleibende) Gerechtigkeit (vgl. die prophetischen Reden!).

3. Bei den Synoptikern (Mt., Mk.; Lk.) findet sich das Wort für Wahrheit („alätheia“) nur selten (18 Belege) und dann im ursprünglich griechischen Verständnis: sachgemäße Aussage bzw. wahrer Sachverhalt.

4. Paulus verarbeitet Elemente beider Wahrheitsverständnisse: wenige Belege für den griech. Einfluss: z.B.: „Die Wahrheit sagen“ (Röm.9,1) und „ der Wirklichkeit entsprechend“ (Röm.2,2). Häufiger verwendet er Wahrheit im Sinne von Zuverlässigkeit, Beständigkeit (Röm.3,3-7) und bringt sie mit der Christusverkündigung zusammen (2. Kor.11,10; Eph.4,21).

5. Im Johannesevangelium wird die göttliche Wahrheit durch das (Selbst-) Zeugnis Jesu zugänglich (Offenbarung: Joh.1,14-18). Jesus ist der geschichtliche Ort der Wahrheit. Damit wird der entgegengesetzte Weg zum platonischen Wahrheitsverständnis beschritten: Während sich bei Platon die Wahrheit von der konkreten Wirklichkeit in die Welt der unsichtbaren Dinge emporhebt, begibt sich die als Offenbarung verstandene Wahrheit in Jesus aus dem unsichtbar göttlichen Bereich konkret in das diesseitig-geschichtliche Leben.

6. Wahrheit ist kein sachliches „Was“, sondern eine Person (daher lässt sich Joh. auch nicht „hellenistisch-gnostisch“ vereinnahmen, z.B. durch die Auslegung der Anthroposophen!). Wahrheit „ereignet“ sich in der Begegnung (Unterschied zwischen einer rein sachlich festzustellenden oder feststellbaren Satzwahrheit zu personalem, existentiellem Wahrheitsverständnis).

7. Die „christliche Wahrheit“ stellt nicht eine zeitlos ewige Idee (wie bei Platon) dar, sondern offenbart sich geschichtlich konkret in der einmaligen Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel bis hin zur Person Jesu: hier gehören Wahrheit und Wirklichkeit unlösbar zusammen. Wahrheit ist so keine „objektive“ Größe oder Lehre, die man sich „subjektiv“ anzueignen hätte, sondern eine existentielle Herausforderung, der man sich nur Vertrauen wagend nähern kann. Nur im Wagnis der Begegnung mit Gott erfährt z.B. das Volk Israel oder der einzelne, dass Gott verlässlich und treu ist.

8. Es geht um einen umfassenden göttlichen Zuspruch, der auf ebenso existentielle und universale Entsprechung zielt. Wer sich einlässt auf diese „Begegnungswahrheit“ kommt in Konflikt mit den Menschen und Verhältnissen, die dieser Wahrheit nicht entsprechen: der geschichtliche Streit um die „Wahrheit in Person“ (Jesus als der Christus Gottes) wird bis zur völligen Entsprechung von göttlicher Wahrheit und menschlicher Wirklichkeit geführt werden (müssen) (Hoffnung auf Vollendung des Reiches Gottes).


III. Die weitere Entwicklung

1. Schon in der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel (des AT), in der „Septuaginta“, macht sich die Tendenz bemerkbar, den für das aramäische (hebräische) Denken wesentlichen Zusammenhang zwischen Wahrheit und Geschichte zu lockern.

2. D.h.: das hebräische Wahrheitsverständnis wird aus seinem Beziehungsverhältnis gelöst und verfestigt sich – durch die Übersetzung vom Hebräischen ins Griechische! - zu einer eigenständigen göttlichen Größe: statt „Gottes Bundestreue“ nun: „das gläubig zu empfangene Geschenk göttlicher Wahrheit“). Der sprachliche Zusammenhang von Wahrheit und Vertrauen (im Hebräischen) kann im griechischen Sprachbereich nicht aufrechterhalten werden.

3. Dennoch: Der geschichtliche Bezug zur Wahrheit wird zwar gelockert, bleibt aber in der „Septuaginta“, der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes, erhalten. Der sokratische Optimismus („richtiges Wissen führe zum rechten Tun“) wird durch die Spannung von Wissen und Wollen ersetzt („die Wahrheit tun“ begegnet so ganz „ungriechisch“ desöfteren in der Übersetzung).


IV. Ausblick für unser Reden von Gott und über Wahrheit

1. Eine Rückbesinnung auf die unterschiedlichen Elemente des Wahrheitsbegriffes kann dazu beitragen, verschiedenartige Aspekte bei der Nutzung des Wortes „Wahrheit“ sichtbar werden zu lassen.

2. Die bis heute in der westlichen Welt geläufige Definition der Wahrheit geht auf Aristoteles (s. Pkt. I, 1+2) und Thomas von Aquin zurück, entstammt also hellenistischem und scholastischem (mittelalterlicher Theologen-Schule) Denken und prägt das Denken der katholischen Theologie bis heute: Wahrheit ist Übereinstimmung von Ding und Verstand, von Aussage mit der durch sie bezeichneten Sache: die Satzwahrheit. Hier hat „Wahrheit“ den Charakter von „Richtigkeit“.

3. So „richtig“ es ist, dass wir heute im alltäglichen und wissenschaftlichen Leben auf dieses Wahrheitsverständnis als „Richtigkeit von Aussagen“ nicht mehr verzichten können, so „wahr“ ist es auch, dass dieser aus dem griechischen stammende Wahrheitsbegriff nur den nachprüfbaren (!) Teil der Wirklichkeit zu erfassen vermag.

4. Die entscheidende Frage nach der Wahrheit erhebt sich dort, wo die Frage nach der lebensbestimmenden Wirklichkeit gestellt wird.  Es geht dabei um die Frage nach dem Sinn, der mein Leben zu tragen vermag – oder nach der Sinnlosigkeit, die das Leben zugrunde richten kann („echt – unecht“ ist hier nicht die Alternative, sondern: „zuverlässig, tragfähig – trügerisch, verlogen“). Das genau hat Luther in seinem existentiellen Verständnis von Glauben in der Reformationszeit neu formuliert.

5. Während wir in unserem Denken gewohnt sind, zwischen Sein und Werden zu unterscheiden (zwischen „ich bin zornig“ und „ich werde zornig“), kennt man im Aramäischen (Hebräischen) diese Unterscheidung nicht. Das gleiche Verb, z.B. „damam“ bedeutet zugleich „stumm werden“ und „stumm sein“ (oder „awar“ „hell werden“ und „hell sein“). Starres Sein, bewegungslos, ist nicht existent. Nur die Bewegung hat Realität, Sein und Werden sind so eng aufeinander bezogen, dass sie zusammen eine Einheit bilden können. Es gibt im Aramäischen kein Verb, das einen „Ist-Zustand“ ausdrücken kann.

6. So müssten wir die Psalmen und andere biblische Texte neu übersetzen. Nicht: „Gott ist mein Fels, meine Burg“ (Ps. 27,1), sondern genauer: „Gott begegnet mir als Fels, als Fundament, ich erfahre mich geborgen bei ihm“. Gott ist (!) nicht einfach, sondern setzt sich in Beziehung – und wir müssen in unserer Sprache diesem Beziehungsgeschehen gerecht werden, in dem wir auf das Wort „ist“ im Zusammenhang mit Gott und Wahrheit so gut es geht verzichten.

7. Für die Rede von Gott bedeutet das: Gott ist (!) in der Bibel nicht der Allmächtige, der Allwissende, der Allgütige, unveränderlich, unbeweglich. Nach 2. Mose 3, 14 ist er der „ich werde sein, der ich sein werde“ oder genauer: „Ich bin der, der stets aufs neue wirkt, euch begegnet“. Eine Definition Gottes im Sinne einer hellenistischen Satzwahrheit ist vom hebräischen Denken her nicht zu formulieren. Gott ist eine „dynamis“ (1. Kor.1, 18), wie Paulus aufgrund seines  hebräischen Denkens auf Griechisch schreibt. Gott hat sich Paulus als Kraft erschlossen, ist ihm als Kraft begegnet.

8. Wenn Jesus sagt: „Ich bin die Wahrheit“, lässt sich diese Wahrheit nur im Hinblick auf die Person Jesu ausmachen: ist sie zuverlässig oder trügerisch? D.h.: nach christlichem Verständnis geht es nicht um aufweisbare Sachverhalte im Sinne von „richtig“ oder „falsch“, sondern um den Anspruch der Person Jesu, meinem Leben Sinn zu geben. Und dieser Anspruch erweist seine Wahrhaftigkeit erst in der Begegnung mit ihm.

9. Wird Jesus für uns zur „Hauptsache“ im Leben, dann ist er „unser Gott“ (von dem her, was wir für die Hauptsache halten, bekommt unser Leben und Tun Sinn). Damit stellt die Begegnung mit der Person Jesu an uns die Frage: Ist, was wir für die Hauptsache halten, wirklich die Hauptsache oder verführen uns Nebensächlichkeiten? Das ist die Frage nach einem tragfähigen Fundament des eigenen Lebens im Angesicht von Schuld, Leid und Tod: ist es zuverlässig oder trügerisch?

10. Wahrheit im christlichen Sinne ist nicht nur die Wahrheit des Redens (das Sagen der Wahrheit), sondern die der ganzen Existenz, ein Sein, eben Leben in (!) der Wahrheit. Das bedeutet, dass die „christliche Wahrheit“ nicht eine oder beliebig viele zeitlos ewige Ideen/ Richtigkeiten/ Führ-Wahr-Halte-Sätze im Sinne Platons darstellt, sondern sich konkret, diesseitig in der einmaligen Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel und in Jesus ereignet hat.

11. Zu dieser Person Jesu kann ich in Beziehung treten (bzw. Jesus begegnet mir) und die Wahrheit dieser Begegnung kann ich durch mein eigenes Leben bezeugen bzw. kann durch das Leben der Kirche zur Darstellung kommen (durch Gottesdienst, Musik, Kultur, Feier, Gastfreundschaft, Spiritualität) und auf diese Weise bezeugt werden.

12. Die in der alten Kirche vollzogene Umwandlung dieser Wahrheit Jesu in christologische Dogmen wirft ein folgenschweres Problem auf: So „richtig“ es ist, über Person, Leben und Werk Jesu Richtiges und nicht Falsches zu sagen, so „wahr“ ist es auch, dass diese Dogmen nicht als „ewige Wahrheiten“ missverstanden werden dürfen und so zu belanglosen Richtigkeiten herabsinken.

13. Wer also zur Rettung der „Wahrheit des christlichen Glaubens“ unverrückbare Satzwahrheiten behauptet oder die Bibel Wort für Wort für „irrtumslos“ hält, richtet das personale Wahrheitsverständnis zugrunde. Anders als durch persönliches Sich-Einlassen auf die Person Jesu wird sich die Tragfähigkeit christlicher Wahrheit nicht erschließen.


Siehe auch:


ONLINE-EXTRA Nr. 129
WOLF-RÜDIGER SCHMIDT:
Glaube ist mehr als Begegnung
Die Unterscheidung zwischen dem aramäisch/hebräischen und griechisch/hellenistischen Denken im Christentum ist so brauchbar wie begrenzt.

Ein Diskussionsbeitrag zum Text von Andreas Goetze (Online-Extra Nr. 127) - sowie einem weiteren Gedankengang von Andreas Goetze selbst.


Der Autor

ANDREAS GOETZE


Jhg. 1964, ist Pfarrer in Rodgau-Jügesheim, Vertrauenspfarrer des Jerusalemsvereins (Partner der Evang-lutherischen Kirche in Jordanien und Palästina und ihrer Schulen, z.B. TALITA KUMI), Mitglied der "Konferenz für Islamfragen" der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und seit vielen Jahren engagiert im christlich-jüdischen Dialog.



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